Mittwoch, 11. Januar 2012

Pahuds Friedrich II.


Im Vorfeld zu seiner Friedrich II.-CD habe ich mich mit Emmanuel Pahud über den Flötenkönig unterhalten und seine Gedanken für das Booklet notiert. Hier seine Gedanken zur Macht der Musik.

Wenn sich die Welt verändert, verändert sich auch ihre Musik. Einer der großen Umbrüche, der mich als Flötenspieler besonders interessiert, fand am Hofe Friedrich des Großen statt. Als Kronprinz hatte sein Vater ihm jede schöngeistige Betätigung verboten - besonders das Flötenspiel. Friedrich sollte zum Soldaten erzogen werden. Doch der Junge wehrte sich und nahm heimlich Musikunterreicht. Anders als Friedrich Wilhelm I. war für ihn nicht allein die militärische und ökonomische Macht des Staates entscheidend, sondern auch der Geist des Herrschers und seiner Untertarn. Friedrichs Begeisterung für die Musik sorgte für einen Bruch mit seinem Vater. Sein Flötenlehrer, Johann Joachim Quantz, soll sich einmal sogar im Kleiderschrank versteckt haben, um nicht erkannt zu werden. Für den Kronprinzen war der Staat seines Vaters ein Auslaufmodell – der junge Friedrich wollte ein aufgeklärter, philosophischer und humanistischer Regent werden. Er setzte sich mit dem Sturm und Drang, mit Kant und dem Humanismus auseinander. Ein moderner Mensch mitten in einer Welt des Umbruchs.
Auf dieser CD geht es mir darum, diese Zeit zu begreifen: die unterschiedlichen Einflüsse, die am preußischen Hofe herrschten, die Brüche in der Mode – und die verschiedenen Rollen, die der König, seine Angestellten und Freunde gespielt haben. Es ist eines, Geschichte aus einem Geschichtsbuch zu lernen, Daten, Fakten und Zitate zu einem Gesamtbild zu addieren. Für mich als Musiker ist ein weiterer Schlüssel, um diese historische Epoche zu verstehen, die Musik selbst. Schließlich funktioniert sie ähnlich wie die Sprache. Sie wandelt sich mit ihrer Zeit: neue Vokabeln werden erfunden und die Grammatik erweitert, um ein verändertes Lebensgefühl auszudrücken.

Ausgangspunkt meiner Gedanken war der Besuch des großen Johann Sebastian Bachs auf Schloss Sanssouci. Damals trafen hier zwei unterschiedliche Menschen aufeinander. Zwei Weltbilder. Auf der einen Seite Bach, der das Barock genial ans Ende gebrach hatte, auf der anderen der junge Friedrich, der ganz neue Ideale prägte. Der sich mit Voltaire austauschte und gemeinsam mit Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel an neuen Klängen tüftelte. Eine Begegnung, bei der das alte Europa dem neuen gegenüberstand. Und ich bin sicher, dass sich die radikalen geopolitischen und philosophischen Wandlungen dieser Zeit auch in der Musik hören lassen.
Ergebnis dieses Treffens war das „Musikalische Opfer“, das Bach dem König schickte, nachdem der ihn mit einer Fugen-Improvisation herausgefordert hatte. Wir haben die Sonate dieses Werkes aufgenommen, in der Bach noch einmal all sein Können zusammenfasst und eine Art Schlusspunkt des Barock setzt.
Mich hat es verwundert, dass diese epochale Wende der Musikgeschichte bis heute meist sehr eindimensional erzählt wird: Einige Musiker haben sich mit den Kompositionen Friedrich des Großen auseinandergesetzt, andere mit den Werken Carl-Philipp-Emanuel Bachs, wieder andere mit der Flötenschule Quantz. Und wir alle stellen uns das musikalische Preußen vor wie auf dem Ölgemälde Adolf Menzels, das den flötenden König in Szene gesetzt hat. Für mich war es spannend, all diese Bewegungen, die ja an einem Ort stattfanden, zusammen zu beleuchten. Mir ging es darum, dieses Treiben, die unterschiedlichen Strömungen, musikalischen Ästhetiken und neuen Ansätze in einer CD hörbar zu machen.
Nachdem Trevor Pinnock an einem wunderbaren Bach-Album gearbeitet hatte, war er der ideale Partner für dieses Unternehmen. Wir wollten einfach voranschreiten in der Musikgeschichte. Gemeinsam haben wir uns auf die Reise in eine Zeit gemacht, die dem Barock folgte. Und uns wurde ziemlich schnell klar, dass dieses Projekt durch seine Vielfalt lebt, durch die unterschiedlichen Protagonisten – und dass es möglich ist, anhand der Kompositionen zu Friedrichs Zeiten auch den Zeitgeist von damals zum Klingen zu bringen.
Worin besteht nun der Wandel in der Musik? Johann Sebastian Bach war ein Perfektionist der Form: er hat mit komplexen Systemen und Harmonien gearbeitet, mit mathematischen Codes und sie durch seine Genialität belebt. Die nächste Generation hat diese alten Formen durchaus aufrecht erhalten, es wurden weiterhin Solostücke oder Sonaten geschrieben. Aber die Freiheit innerhalb der alten Formen wurde durch Carl Philipp Emanuel Bach, durch Quantz und auch durch Friedrich selbst erweitert. Man erkennt das daran, dass die Taktzahlen nicht mehr genau stimmen, dass alles interaktiver wirkt – und dass die Musiker suchen, was man im Jazz die „Blue Note“ nennt. Eine Stimmung, einen individuellen Ausdruck. Das erreichen sie zuweilen schon durch ganz einfache Effekte. Friedrich zum Beispiel lässt selbst in den schnellen Stücken eine Note ganz langsam und lange spielen – so, dass ich als Flötist meine ganze Energie, mein Empfinden über den Rest der Komposition legen kann.
Interessant fand ich, dass die unterschiedlichen Protagonisten am preußischen Hof Individuen waren. Dass jeder für einen eigenen Stil, oder besser, für einen eigenen musikalischen Ton stand. Vielleicht kann man das am besten durch die Rolle der einzelnen Komponisten beschreiben. Friedrich war der König – unangefochten und außerhalb jeder Kritik (einzig Quantz genoss das Privileg, den Herrscher in seinem Flötenspiel zu belehren). Diese Stellung hört man auch in seinen Kompositionen. In ihnen übernimmt die Musik die Sprache des Herrschers.
Für Friedrich war die Musik ein Mittel, der alten, strengen Welt seines Vaters zu entkommen. Die Flöte bot sich an, weil sie damals modern und verhältnismäßig leicht zu lernen war. Es gab viele geniale Geiger, mit denen sich ein König nicht messen wollte. Bei der Flöte war das anders: der König stand in keiner Konkurrenz. Mit diesem Instrument konnte er ausdrücken, was er in Worten nicht formulieren konnte und durfte. Das geht mir übrigens ähnlich: auch für mich ist das Instrument eine Möglichkeit, das zu sagen, wozu mir die Worte fehlen.
Friedrichs Kompositionen sind – obwohl sie von einem musikalischen Dilettanten geschrieben wurden – die schwierigsten. Das liegt daran, dass sie den Duktus des Herrschers tragen: Er bestimmt die Regeln, er entscheidet, was richtig und falsch ist. Er ist selbstbewusst. Friedrichs Kompositionen zeichnen sich dadurch aus, dass sie auf der einen Seite pompös klingen, auf der anderen Seite aber schlicht gehalten sind. Sie wollen sehr viel. In ihnen spiegelt sich nicht nur der Privatmann Friedrich, sondern auch der Herrscher. Und auch hier schafft die Musik, was der Geschichtsschreibung nur selten gelingt: sie verbindet, ganz ohne Worte, das Private und das Politische miteinander.
Eine ganz andere Musiksprache pflegte Quantz. Er war zwar ein so genannter „vollständiger Mensch“, gebildet und traditionell erzogen. Für den jungen Friedrich war er eine Art Vaterfigur. Aber er war eben auch Angestellter des Hofes. Und das hört man auch. Für Flötisten wie mich ist Quantz natürlich ein Meilenstein der Musikgeschichte. Sein Buch „Versuch der Anweisung eine Flöte traversière zu spielen“ ist bis heute ein Standartwerk. Und seine Kompositionen zeichnen sich durch musikalische Bildung aus. Aber ebenso wie die Stücke Car Philipp Emanuel Bachs, der zwar auch mit den Konventionen seines Vaters gebrochen hat, bleiben Quantz’ Kompositionen Werke eines Untergebenen. Dieser Unterschied wird immer wieder deutlich. Zum Beispiel in dem bekannten und genialen A-Dur-Konzert Bachs. Trotz seiner Freiheiten und des humanistischen Geistes hören wir in der Konvention, dass es das Werk eines Hofangestellten ist.
Während der Aufnahmen zu dieser CD passierte etwas, das mich faszinierte: Ich musste für jedes Werk in eine andere Rolle schlüpfen. Jeder Komponist, der Freidenker Friedrich, sein Lehrer Quantz, der revolutionäre Carl Philipp Emanuel Bach und Wilhelmine von Preußen haben aus unterschiedlichen Positionen komponiert. Bei allen unterscheiden sich der Tonfall und der Sprachduktus der Musik. Für mich als Interpreten ist das eine große Herausforderung. So sind die einzelnen Stücke dieser CD zu kleinen Opern geworden, die von unterschiedlichen Menschen erzählen. Irgendwann formte sich aus all den Mosaiken für mich ein Bild über das Treiben, das Denken und den Geist am Hofe Preußens.
Der Umbruch vom Barock in eine Ära der Aufklärung ist mehr als nur Geschichte. Sie spiegelt sich in der Alltagskultur in Preußen und in seiner Musik wieder. Wer genau hinhört, versteht, wie sehr die Musiker von den modernen Ideen geprägt waren – und wie sie daran gearbeitet haben, sie in Musik zu übersetzen. Jeder auf seine Art. Für mich ist die Reise an den musikalischen Hof Friedrichs des Großen auch eine Reise durch die Geistesgeschichte seiner Epoche geworden – ein Abenteuer, in dem Menschen durch ihre Ideen, durch ihren Glauben, durch ihre Kämpfe und durch ihre Musik die Welt verändert haben. 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen