Mittwoch, 15. Dezember 2010

"Ich will am Klavier sterben"

Hélène Grimaud
Hélène Grimaud ist eine der besten Klavierspielerinnen - seit einigen Monaten wohnt sie in ihrer Wahlheimat Luzern. Ein Tumor hat sie aus dem Leben geworfen. Nun kommt sie zurück. Hier spricht die Pianistin zum ersten Mal über ihre Krankheit, über ihre Verzweiflung und über den Tod.
  
Frau Grimaud, niemand weiß, warum Sie im letzten halben Jahr Ihre Konzerteabgesagt haben und von der Bühne verschwunden sind. Was war der Grund?

Eigentlich hatte ich für dieses Jahr eine Auszeit geplant, weil ich gespürt habe, dass ich neue Gedanken und neue Inspiration brauche. Aber dann hat mir meine Gesundheit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Bei mir wurde ein Bauchhöhlentumor diagnostiziert. Das ist eigentlich ein kleiner Eingriff, aber nach der Kernspintomographie haben die Ärzte gesagt, dass es ernst sei. Und so wurden aus der kleinen Behandlung vier Monate, in denen ich in Behandlung war und Medikamente schlucken musste. Mir war dauernd schlecht, ich hatte unerträglich Schmerzen und konnte nichts dagegen tun.




Sie sind eine der klügsten, zielstrebigsten und klarsten Musikerinnen. Hat die Krankheit sie aus der Bahn geworfen?

Ich habe Dinge erfahren, die ich nie für möglich gehalten hätte. Und heute, da es mir besser geht, merke ich, wie sehr mich diese Zeit verändert hat - ich wünsche mir, das nie wieder erleben zu müssen, aber das, was ich erfahren habe, war existenziell. Ich habe mich in einem merkwürdigen Fluss befunden, in einer Welt aus Schmerzen, in der nichts mehr Sinn gemacht hat. Für jemanden wie mich, der sein ganzes Leben immer wusste, was er will und seine Ziele verfolgt hat, war das eine ganz neue Erfahrung.

Was genau ist passiert?

Ich habe mich plötzlich nach dem Aufwand und dem Nutzen jeder Bewegung gefragt. Man bekommt perverse Selbstzweifel und überprüft, ob man alles, was man tut, wirklich braucht. Das kann sehr befreiend sein. Aber es ist auch schrecklich, weil man weiß, dass diese Gedanken nur da sind, weil der Körper versagt und man dabei zuschaut, wie man seinen eigenen Willen verliert.

Was waren die Fragen, die Sie beschäftigt haben?

Ich habe mich zum Beispiel gefragt, ob es überhaupt Sinn macht, Klavier zu spielen. So einen Gedanken habe ich nie für möglich gehalten. Aber ich habe gemerkt, dass mein Gehirn anfängt diese Dinge zu denken, weil der Körper ihm das befiehlt. Mein Körper hat mir nicht mehr erlaubt, Musik zu machen, also haben meine Gedanken versucht, dieses Problem zu lösen.

Auch die Hoffnung ist ein Gedanke - hilft sie?

In den ersten vier Wochen schon. Mein Kopf hat mich gesund geredet, hat den Zustand meines Körpers ignoriert, mir gesagt: "Das wird schon wieder." Aber irgendwann musste mein Gehirn einsehen, dass mein Körper ihm nicht folgt. Und da hat es angefangen, meine Krankheit neu zu denken. Und ich habe diesen Streit zwischen Körper und Geist beobachtet, ohne eingreifen zu können.

Sie gelten Als "Philosophin am Klavier", lieben es zu denken. Ist der Körper ihnen heute wichtiger als der Geist?

Wer sagt, dass der Geist wichtiger ist als der Körper, spinnt! Die Wahrheit ist, dass der Körper den Geist besiegen kann. Ich glaube, dass ein Leben nur dann perfekt ist, wenn beides in Einklang ist. Während meiner Krankheit habe ich erfahren, dass der Körper und der Geist zwei eigene Leben führen – wenn einer von beiden sagt, dass er etwas nicht kann, ist der andere machtlos. Am deutlichsten war die Trennung, wenn ich Medikamente bekommen habe. Dann habe ich gespürt, dass ich nicht mehr ich selbst war. Dann war mir alles egal. Dazu kam der Schmerz. Vielleicht gibt es kein anderes Gefühl, das den Menschen so sehr auf sich selbst zurückwirft wie er. Irgendwann hat mich nichts mehr interessiert, ich habe das Außen nicht mehr zugelassen, lag nur noch da. Alles, was ich kannte, hatte keine Bedeutung mehr.

Auch die Liebe nicht?

Selbst sie versagt in dieser Situation. Natürlich war ich froh, meinen Freund an der Seite zu haben, der Kraft ausstrahlt. Aber wenn man ehrlichist, hilft das nicht wirklich, wenn man nicht mehr in der Lage ist, dieseLiebe zuzulassen, weil man nur noch mit sich selbst und seinem Körper beschäftigt ist.

Und die Musik?

Nichts.

Sie haben immer über die Größe der Musik gesprochen - war das eine Lüge?

Auch die Musik muss man zulassen, wenn sie wirken soll. Aber es gibt Momente im Leben, in denen man nichts zulassen kann - auch nicht die Musik. Man kann sie nicht schlucken wie eine Pille. Man muss ihr zuhören und sie verarbeiten, wenn sie etwas bewirken soll. Inzwischen glaube ich, dass die Musik zwar eine heilende Wirkung hat, aber nur, wenn man eh auf dem Weg der Besserung ist, wenn man sich wieder mit ihr beschäftigen kann. Im Moment des Schmerzes ist auch sie machtlos. 

Haben Sie an den Tod gedacht?

Ja, natürlich. Aber ich wollte nicht sterben. Auch das war eine sehr tiefe Erfahrung. Ich habe gemerkt, dass das Leben Besitz über mich hat. Dass es unheimlich stark ist.

Stärker als der Schmerz?

Ich hatte einen Freund, der an unheilbarem Krebs erkrankt war und um Sterbehilfe gebeten hatte. Alles was er tun musste, war den Mechanismus in Gang zu setzen, der ihn aus der Welt trägt. Das war sein Wunsch, aber am Ende hat er den Knopf doch nicht gedrückt. Er hat alles Leid ertragen, weil ihm selbst das Leben im Schmerz schöner schien als der Tod. So schlimm war es bei mir nicht. Aber es ist auch einer meiner größten Wünsche, das ich auf der Bühne sterben und nicht im Krankenhaus. Irgendwann, mitten in einer offenen Phrase. Das wäre ein echtes Privileg.

Dann dürfen Sie aber nicht nach vorne fallen, das würde einen schlechten Akkord ergeben.

Okay, an diese Konsequenz habe ich noch nicht gedacht. Aber ich verspreche, an der Choreographie zu arbeiten und nach hinten zu fallen. 

Im Ernst: was treibt uns dazu, leben zu wollen, selbst wenn unser Körper versagt?

Ich glaube, dass wir so geboren sind, dass wir immer mehr aus unserem Leben machen wollen. Bei mir persönlich ist es die Hoffnung, dass ich in der Musik jeden Tag besser werden kann. Diese Hoffnung ist derzeit das Einzige, was mich treibt.

Meinen Sie das ernst? Sie leben nur für die Musik?

Auf jeden Fall kann ich sagen, dass ich am Morgen aufstehe, weil ich in der Musik ein Ziel finde. Wenn ich daran nicht glauben würde, wäre das Leben ein Stillstand und dann könnte ich auch eine Blume sein. 

Gleich nach ihrer Krankheit haben Sie gleich eine CD aufgenommen. Spielen ihre Erfahrungen darin eine Rolle?

Die Aufnahme war schon lange vor der Krankheit geplant. Ich wollte Mozart, Berg und Bartok spielen. Im Krankenhaus habe ich viel über diese Musik nachgedacht. Und ich habe festgestellt, dass alle Stücke meinem eigenen Kern sehr nahe sind: sie sind dramatisch, voller Kontraste, und auf merkwürdige Weise passen sie zu meiner Situation. Sie führen alle zu den Grundlagen der Musik zurück. Das ist mir heute vielleicht etwas bewusster, aber an meiner Interpretation hat sich, glaube ich, nichts verändert.

Sie sagen gern, dass die Musik eine Sprache der Gedanken ist. Eben haben Sie über den Körper gesprochen. Ohne ihn kann man nicht Klavier spielen. Der große Pianist Maurizio Pollini hat mir einmal gesagt, dass er sich wünscht, ein Konzert zu geben, in dem er sich die Noten nur vorstellt. Daniel Barenboim behauptet dagegen, dass Musik immer auch Körper ist. Wie ist das für Sie?

Der Klang ist ohne den Körper unmöglich. Das Schöne an Musik ist, dass sie immer beides ist. Und noch etwas ist wichtig: Für mich ist sie die einzige Welt, in der ich nicht denken muss - in der ich einfach nur sein kann. In der Musik bin ich eine Einheit mit der Natur. Diese Erfahrung hatte ich sonst nur, als ich noch meine Wolfsfarm hatte.

Der wichtigste Körperteil einer Klavierspielerin sind ihre Hände. Pflegen sie die besonders?

Nein, aber vielleicht benutze ich sie bewusster als andere Menschen.

Wie meinen sie das? 

Meine Finger sind verantwortlich dafür, wie ich in Musik spreche: sie spüren den Druck der Tasten, geben ihm nach oder nicht. Mir gefallen die asiatischen Kulturen, in denen alle Extremitäten, auch die Hände, als Antennen verstanden werden, in denen sich die komplizieren Bewegungsmechanismen konzentrieren. Überlegen Sie nur, wie viele Muskeln miteinander funktionieren, wenn wir eine Tasse Tee trinken...

... oder einen Menschen streicheln.

Ja, dann werden die Hände zu Sendern und gleichzeitig zu Empfängern. Ich spüre die Temperatur, die Struktur der Haut, eventuell sogar die Stimmung des Anderen. Es entsteht eine unglaubliche Energie. Und es ist eine Kunst, diese Energie im Kopf umzuwandeln und am Klavier wieder durch die Hände abzugeben. Wenn es gut läuft, hört man, dann mehr als das, was die Hände fühlen: wenn sie die Tasten berühren, geben sie nicht nur die Empfindung der Haut wieder, die man gestreichelt hat, sondern auch die eigenen Gefühle, die damit verbunden sind.

Sie meinen Klavierspielen ist intimer als Streicheln?

So habe ich das nicht gesagt. Aber das Gefühl des Streichelns im Klavierspiel auszudrücken kann sehr intim sein.

Sie haben darüber geredet, dass der Körper den Geist bestimmen kann, wenn er krankt wird. Aber wird der Geist den Körper überleben, wenn wir sterben?

Manchmal glaube ich daran. Weil ich immer wieder Menschen spüre, die nicht mehr auf der Welt sind. Natürlich könnte das eine Projektion meines Gehirns sein, aber ich glaube auch, dass ein Gehirn allein diese Emotionen nicht produzieren kann. Und, ja, wenn ich jemanden treffe, der mir bekannt vorkommt, wenn ich körperlich durch einen Gedanken an jemanden ergriffen werde, der tot ist, dann glaube ich durchaus an Reinkarnation - und an die Unsterblichkeit des Geistes. Dieser Glaube ist nicht religiös, sondern eher eine Ahnung.

Inzwischen geben Sie wieder Konzerte. Hat sich etwas verändert?

Eigentlich wollte ich ja eine Pause einlegen, um nachzudenken. Nun war die Pause erzwungen - und sie war ein großes Stück Arbeit. Eine Auseinandersetzung mit mir selbst. Mich verblüfft, dass mein Charakter mich schon wieder eingeholt hat und ich schon wieder versuche, alles zu organisieren und zu kontrollieren. Ich habe im August mein erstes Konzert gegeben und bin seitdem auf Tour - aber dabei spüre ich eine neue Energie, die ich so bislang nie erlebt habe.

Das Gespräch führte Axel Brüggemann

Gerade ist Hélène Grimauds neues Album "Resonance" erschienen (Deutsche
Grammophon)

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