Freitag, 13. Januar 2012

Berlin und Dresden in der medialen Kampfzone

Klassik im Fernsehen. Ja, das gab es mal. Ich sage nur: August Everding. Oder: Erkennen Sie die Melodie. Gut, diese Sendungen hatten keine „Wetten dass...“-Quoten, aber immerhin: sie waren Familien-Entertainement im Hauptsender (was nicht ganz so schwer war, da es damals nur Hauptsender gab!). Im Zeitungs-Feuilleton ist die Musik fast abgeschafft. Einst wurde in den überregionalen Blättern fast jede Premiere in Oldenburg und Nürnberg besprochen. Heute leistet sich nur noch eine Zeitung, die FAS, einmal im Monat eine Reise durch die Opern- und Konzertrepublik – und angehalten wird auch hier hauptsächlich bei den großen Namen. Klassik, so glaubt man, sei nicht mehr en vogue.
Der Bruch ist – und das erstaunt – ungefähr zeitgleich mit der Netrebkonitis und der „verpoppung“ der Klassik eingetreten. Je populärer die Musik wurde, desto weniger wurde ihre wahrhafte Wurzel bedient. Die Klassik rutschte an die Oberfläche. Im Fernsehen ebenso wie in den Zeitungen.
Und noch etwas erstaunt: Konzert- und Opernveranstalter verbuchen nach wie vor gleichbleibende, wenn nicht steigende Zuschauerzahlen. Trotzdem scheint die Klassik redaktionsintern unter Legitimationsdruck. Das Feuilleton hat sich von der Klassik-Bühne zur Polit-Bühne verschoben, und im Fernsehen kaufen „Wissen vor Acht“ und „History“ der Musik den Schneid ab. Infotainment, das gleich in zwei Buchsendungen auf ARD und ZDF gepflegt wird – das es in der Klassik aber so nicht gibt.

Vielleicht liegt die Verdrängung der Musik aus den Medien auch daran, dass die bessere Inszenierung heute in unserer sogenannten Wirklichkeit stattfindet. Dass Feuilletonisten sich lieber mit dem Kasperletheater um den Bundespräsidenten als mit der Inszenierung eines jungen Regisseurs in Wuppertal beschäftigen. Dass wir das Pathetische, das Große, die theatrale Aufführung in einer Welt, in der sowohl das Private als auch das Öffentliche zum Spektakel geworden sind, gar nicht mehr brauchen.
Auch in den beiden Hauptprogrammen des Fernsehens findet die Klassik kaum noch statt. Das ZDF bemüht sich wenigstens, zuweilen Sendungen aus den Nischensendern 3Sat und arte einem größeren Publikum zugängig zu machen. Und einmal im Jahr liefern sich die beiden Öffentlich-Rechtlichen Anstalten einen Klassik-Kampf um die Quote.
Was bisher geschah: Silvester 2010 wechselten die Berliner Philharmoniker vom ZDF zur ARD. Dem Vernehmen nach knatschte es zwischen den Medienbeauftragten des Ensembles und dem Sender. Der Wechsel zur ARD soll – auch das ist ein Gerücht – unter dem gleichen finanziellen Rahmen stattgefunden haben, der dem Zweiten zu teuer war. Es ist nur eine Frage am Rande, warum ein Sender, der mit seinen Regionalsendern allerhand eigene Spitzenorchester, etwa das des Bayerischen Rundfunks unterhält, die weitgehend kostenneutral auftreten könnten, ausgerechnet auf die kostspieleigen Philharmoniker setzt. Ein Umstand, der in den betroffenen Ensembles in den letzten Jahren für einigen Unmut gesorgt hat, und der sich nun allmählich Bahnen zu brechen scheint.
Die Stoßrichtung aber war sofort deutlich: Die ARD setzte auf Hochglanz. Und das ZDF reagierte. Nachdem es bereits im ersten Jahr mit einem Rückblick mehr Quote einfuhr als die zeitgleiche Philharmoniker-Live-Konkurrenz in der ARD (die von Harald Schmidt moderiert wurde), setzte sie 2011 auf Christian Thielemann und die Staatskapelle in Dresden. Und natürlich: auf einen Superstar – auf Anna Netrebko. Wieder gewann das ZDF den Klassik-Quoen-Kampf. Dieses Jahr sagte Anna Netrebko kurzfristig ab, aber in Dresden wurden dennoch Operetten-Duette gesungen. Und der Beweis angetreten, dass auch Angela Denoke, die sicherlich mit einer besseren Stimme als die Netrebko ausgestattet ist, das Publikum anzieht. In der Berliner Philharmonie standen dagegen Simon Rattle und Jewgeni Kissin auf dem Podest. Und wieder verlor die ARD das Rennen, dieses Mal mit über einem Prozent unterschied in der Quote. Der Sender rutschte sogar unter die magische Grenze eines Hauptsenders von fünf Prozent. Es besteht Handlungsbedarf.
Das alljährliche Wettrüsten zum Silvestertag ist vielfach absurd! Statt die zwei Klassik-Flächen zeitlich zu verteilen (etwa in unterschiedlichen Jahreszeiten), finden sie fast parallel zueinander statt. Statt ein ARD-Ensemble zu engagieren, setzt die ARD auf die Philharmoniker. Das klassik-affine Publikum, welches das ganze Jahr auf Musik im Fernsehen wartet, bekommt plötzlich eine Parallel-Vorstellung, die Quote – und das ist einfachste Mathematik – halbiert sich. Gebührenzahler dürften über diese Konstellation ebenso erschrocken sein wie die Radioorchester der ARD.
Die Widerstände, besonders innerhalb der ARD-Ensembles, formieren sich. Der Druck auf den Sender wächst. Und die ARD sucht ihr Heil dem Vernehmen nach in einer weiteren Kopie: Für das Silvesterkonzert 2012 ist vom Ersten und den Philharmonikern nun – wer sonst? – Anna Netrebko angefragt. Welch abgrundtiefe Einfalt! Und welch Verrat am Vertrauen in die Musik!
Diese Planungspolitik zeigt, wie angespannt die Philharmoniker derzeit sind. Sie haben gemerkt, dass ihr Chefdirigent schon lange kein Zugpferd der Klassik mehr ist. Simon Rattle findet außerhalb Berlins weitgehend jenseits der Öffentlichkeit statt, seine CD-Verkäufe sind schleppend, seine mediale Präsenz und seine Strahlkraft aufgezehrt. Und sein Konkurrent aus Dresden, Christian Thielemann, erobert peu à peu die alteingesessenen, mythischen Orte der Philharmoniker: Nach dem Silvester-Sendeplatz im ZDF nun auch die Osterfestspiele in Salzburg. Es ist kein Geheimnis, dass die vorzeitige Vertragsverlängerung Rattles ungemein knapp ausgegangen ist: nur eine hauchdünne Mehrheit der Musiker hat für ihn gestimmt. Viele sympathisieren inzwischen mit dem Gedanken, dass Thielemann das Orchester übernimmt. Doch der hat keine Not. Seine Aufbauarbeit mit den Dresdenern hat noch gar nicht richtig begonnen. Als Publikumsliebling ist er trotzdem etabliert.
Und was hat all das mit dem Fernsehen zu tun? Vielleicht dieses: Die Klassik ist kein Wettrüsten. Klassisch bedeutet Kontinuität, Pflege dessen, was traditionell gewachsen ist und eine Fortführung der Tradition in die Gegenwart. Große Namen sind dabei sicherlich hilfreich. Die Quoten der Silvesterkonzerte der letzten Jahre zeigen aber auch: wesentlicher als die Namen ist die Glaubwürdigkeit der Musik. Dafür stehen Thielemann und die Dresdener. Und genau diese Glaubhaftigkeit verlieren die Berliner unter Simon Rattle immer mehr. Indem sie vom ZDF zur ARD gewechselt sind und sich damit selbst in Konkurrenz zu den Radiosinfonieorchestern gestellt haben. Indem sie dem Geld nach Baden-Baden folgen und Salzburg hinter sich lassen. Und indem sie für das nächste Jahr auf die Namen setzten, mit denen die Klassik ihre Rolle im Feuilleton verloren hat.
Das Fernsehen schafft immer wieder Augenblicke der Wahrhaftigkeit der Musik. Das Publikum, das eh Klassik schaut, ist bei arte und 3Sat gut aufgehoben. Im Hauptprogramm geht es um die Ausweitung der Klassikzone.
Die derzeitige Entwicklung ist auf der einen Seite verstörend, auf der anderen könnte sie hoffnungsfroh stimmen. Das ZDF hat gezeigt, dass der Mut zu Neuem durchaus belohnt wird. Dass die großen Namen zwar hilfreich sind, aber kein Muss darstellen. Die enttäuschenden Quoten des ECHO-Klassik zeigen, dass Musik im Fernsehen glaubhaft, Wahrhaftig und echt sein sollte, wenn sie das Publikum erreichen will.
Und anders als viele Zeitungen, hat das Fernsehen die Musik noch nicht aufgegeben. In den Redaktionen wird an neuen Formen gebastelt, alte werden über Bord geworfen – und in Sternstunden behauptet sich die Klassik als Kraft selbst. Überall dort, wo sie echt, wahrhaftig – und im wahrsten Sinne des Wortes klassisch verstanden wird. Als existenzieller Teil unseres Lebens. Nicht als Inszenierung in Konkurrenz zu unserer Wirklichkeit. Sondern als Wahrhaftigkeit gegen unsere Gesellschaft des Spektakels.
AXEL BRÜGGEMANN

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