Als Europa noch von Monarchen regiert wurde, regierte die Vierte Gewalt auf der Bühne. Egal, ob Österreichs Kaiser Joseph II., Emanuele von Italien oder Märchenkönig Ludwig II. - sie alle haben Opern in Auftrag gegeben. Natürlich zensiert, aber durchaus mit politischem Potenzial. Mozart riskierte mit „Le Nozze di Figaro“ immerhin die Missgunst des Adels, Verdi zeigte wie Könige sich durch Privates um Kopf und Kragen regieren, und Wagner führte in „Rienzi“ vor, was einem Volkstribun droht, wenn er sich zum Despoten verwandelt. Wotan, der in Verträge verstrickte Gott, erkannte seine Ausweglosigkeit, wollte die Macht an seinen Sohn und Enkel übergeben, und läutete dennoch die Apokalypse ein.
Keine andere Kunst führt uns so eindringlich vor, dass Macht nicht nur Politik bedeutet, sondern, dass immer und überall das Private mitregiert: das all zu Menschliche, der verführerische kleinen Luxus oder der Schwäche zum ewigen Weib.
Die Oper hat die Mächtigen gefeiert oder ihnen den Spiegel vorgehalten: Schlüpfrige Monarchen wie der Graf Almaviva, die das Recht auf die erste Nacht in „Figaros Hochzeit“ als Staatsziel begreifen, eifersüchtige Regenten wie Verdis Otello und Schwedens Gustav III. im „Maskenball“ oder die Hohenpriesterin Norma, die an ihrem versteckten Privatleben als politische Repräsentantin scheitert.
In der Oper gibt es für Herrscher nur drei mögliche Finale: die unendliche Liebe, den Tod oder die Revolution. Das Aussitzen ist auf der Bühne ebenso wenig vorgesehen wie Skandale um Einfamilienhaus-Kredite und Business-Class-Upgrades. Höchstens der Sommerurlaub eines Staatspräsidenten in einer Unternehmervilla wäre als Opernplot vorstellbar – dafür aber hätte Christian Wulff mindestens mit Veronika Ferres durchbrennen müssen.
Vielleicht liegt es auch nicht an der Blutleerheit unseres Präsidenten, dass er nicht für die Oper taugt. Vielleicht braucht die Politik die Oper heute gar nicht mehr. Schließlich ist sie – wie wir seit Guy Debord wissen – selbst zum Spektakel geworden. Zur besseren Inszenierung. Zur falscheren Welt. Zum echteren Theater!
Früher waren die Oper und ihre Kritik politische Bekenntnisse. Die Bühne ein Ort, an dem über das gesprochen wurde, was in der Realität verboten war. Die Zeitungen die Übersetzer der geheimen, subversiven Sprache der Musik. Die Oper eine Mythenmaschine mit versteckten Zeichen und Symbolen. Die Inszenierung eine Entlarvung der Wirklichkeit. Kunst war eine Lebensgrundlage für den gesellschaftlichen Diskurs.
Heute scheitert die Oper überall dort, wo sie die Wirklichkeit inszenieren will, an der viel besseren Inszenierungskraft der Realität. Der Kunst bleibt höchstens noch die Rolle der Repräsentation – etwa wenn Angela Merkel Bayreuths roten Teppich zum Polit-Cat-Walk erhebt. Hier adelt die Oper nicht mehr die Regenten, sondern die Herrscher die Oper.
Die wahre Oper ist dabei ins Fernsehen oder in die Zeitungen gewandert. Hier werden die neuen Dramen inszeniert. Doch wenn „Spiegel“ (der neue Wagner?), „Bild“ (der neue Puccini?) oder „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (der neue Mozart?) beschließen, eine eigene, moderne Oper zu komponieren, sind sie darauf angewiesen, dass der König mitspielt. Und der verweigert sich gern. Christian Wulff hat keine Lust, sich seine eigene Inszenierung vermasseln zu lassen. Er will nicht, dass die inzwischen zur Soap gewachsene Handlung um seine privaten Verfehlungen zur politischen Wirklichkeit wird. Sollen die Zeitungen doch Trompeten, Pauken und Tschingderassabum anstimmen. Der Präsident hat die Oper längst selbst zur Lebensphilosophie erkoren.
Das einzig Spannende an der aktuellen Inszenierung ist, wer das Libretto, und wer die Musik schreibt. Darüber streiten das Präsidialamt und die Chefredaktionen. Für einen Feuilletonisten bleibt bei all dem Spuk nur die Betrachtung der Aufführung und die stille Erkenntnis, dass die gute alte Oper im Zeitalter der politischen Selbstinszenierung und der medialen Meister-Trommelei kaum noch die Kraft hat, unsere Wirklichkeit als Kunst zu dechiffrieren. Wir scheinen die Oper nicht mehr zu brauchen – wir haben ja Günter Jauch!
Und so ist die Bühne, auf der Politik und Medien die Geschichte eines Mächtigen erzählen, der durch private Hybris strauchelt, aber nicht an die Machtübergabe denkt, nicht ans Abtreten und schon gar nicht an den Weltuntergang, letztlich eine Endlos-Reality-Soap, die zwar wagnersche Zeitdimensionen sprengt, letztlich aber nichts anderes als Musik ohne Botschaft, Klang ohne Inhalt oder - wie Adorno es einst formulierte - ein großes „Als-Ob“ ist.
Der Präsident lebt.
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