Dienstag, 14. Dezember 2010

Antwort auf Holger Noltze

Wie bringen wir Musik unter die Leute? In einem klugen Buch kritisiert Holger Noltze die aktuelle Klassikvermittlung. Heidenreich und Co. machen es sich zu leicht, sagt er. Zu Recht. Aber seine eigenen Gedanken tappen zuweilen ebenfalls in die Leichtigkeitsfalle. Eine Antwort.
Holger Noltze hat ein gutes Buch geschrieben, ein wichtiges Buch, ein Buch, das mit der Vermittlung klassischer Musik abrechnet, mit den dauereuphorischen Musik-Messiasen Heidenreich und Beikircher, mit dem dummen Fernsehen und den überambitionierten Stadttheater-Dramarturgen, mit den plappernden Künstlern und den sparsamen Politikern, mit dem unterbelichteten Schulsystem und ein bisschen auch mit dem Autoren dieses Textes. Sie alle, so Noltze, würden mit gutem Willen das Falsche tun. Während sie die Klassik zu den Menschen bringen wollen, unterfordern sie ihr Publikum. Noltze behauptet, die neuen Klassikvermittler würden in die Welt posaunen, wie leicht und schön, wie ergreifend und wie populär die Klassik sei und dabei das Wesentliche vergessen: dass Musik per se eine Anstrengung bedeutet, dass Bach und Beethoven, Monteverdi und Schönberg Geduld und Ausdauer fordern. Und dass erst diese Anstrengung den wahren Wert der Musik ausmacht. Doch die Botschafter der Klassik würden in ihrer Begeisterung letztlich nur die „Leichtigkeitslüge“ vorantreiben und dabei ungewollt zum Aussterben ihrer geliebten Kunst beitragen. Keine Ausnahmen? Nein!


Der Rundfunk-Mann und Feuilletonist Holger Noltze – und das ist das Interessante an seinem Buch – hat in großen Teilen natürlich Recht. Werben wir wirklich für die Klassik, wenn wir dreijährige Kinder mit Joghurtbechern rasseln lassen und sie dafür auch noch loben? Begeistern wir ein junges Publikum ernsthaft für Musik, wenn wir Mozart zum Pop-Star stilisieren? Hilft die emotionale Schwärmerei darüber, wie betroffen uns die Oper macht, damit auch andere diese Betroffenheit empfinden? Und überhaupt: müssen Radio, Zeitungen und Fernsehen unter dem Niveau der Klassik reden, schreiben und senden, nur weil sie mit Musik Quoten machen wollen? Und mehr noch: müssen sich die Musikvermittler sich auf die Moden unserer Alltagskultur herablassen, mitmachen in einer Welt, in der das Wissen per Mausklick organisiert wird, in dem das Trash-Fernsehen dauernde Unterhaltung verspricht und die Schnelllebigkeit als oberstes Gesetz regiert? Oder muss die Klassik als Urform des Epischen, des Dauerhaften, des Komplexen gerade in dieser Zeit ihre eigentlichen Werte auf dem Markt behaupten: Geduld, Einkehr und Anstrengung?
All das sind berechtigte Fragen. Aber – und darin liegt Noltzes Problem – auch die klugen Analytiker sind nicht vor der „Leichtigkeitslüge“ gefeit. Noltze geht etwas zu bewusst auf die Suche nach dem Negativen, sucht selbst im Guten noch das Schlechte und wird so zum unfreiwilligen, schlechtgelaunten Propheten des Unterganges. Offensichtlich wird das, wenn er im letzten Kapitel seine eigenen Lösungsvorschläge aus einem Rundgang durch die intellektuellen Vermittlungsphilosophien ableitet, Adorno, Steiner und Sloterdijk zitiert, um dem staunenden Leser schließlich zu erklären: „Kluge Vermittlung kennt die Notwendigkeit der anthropotechnischen Mechanik, sie weiß, dass ohne Anstrengungsenergie keine Bewegung möglich ist.“ Das hört sich gut an – aber welche Konsequenzen ziehen wir daraus? Diese Frage lässt Noltze weitgehend offen.
Das Buch wird dort gefährlich, wo der Autor selbst zur Vereinfachung neigt und den pädagogischen Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht. Er Arbeitet sich an Leuten ab, die man auch links liegen lassen könnte, an Elke Heidenreich und an Justus Frantz, und dann wirft er ausgerechnet Christian Thielemann in den gleichen Topf. Noltze echauffiert sich darüber, dass der Dirigent in der CD-Serie „Der kleine Hörsaal“ Kindern den zweiten Tristan-Akt folgendermaßen erklärt: „Da wird im Dunklen geknutscht, also das ist eine kleine private Party, aber die endet eben sehr unerfreulich.“
Nun ist der Autor dieser Rezension, zugegeben, nicht ganz unbefangen, da er den „Kleinen Hörsaal“ erfunden hat. Aber er weiß eben auch, dass Thielemann zuvor mit den Kindern in die Tiefen der Partitur hinabsteigt, keine Gefühls-Interpretation zulässt und am Ende gemeinsam mit den Kindern zwei Interpretationen des „Tristan“ anhört, um sich von den jungen Zuhörern sagen zu lassen, dass er in seinem Wiener Dirigat  zwar den Wahnsinn dirigiere, sich Carlos Kleiber aber gewissenhafter an die Noten halte. Dass Thomas Quasthoff in anderen Folgen nicht über lustige Lieder, sondern über die musikalischen Suizid-Gedanken in Schuberts „Schönen Müllerin“ spricht und Pierre-Laurent Aimard über Ligeti, blendet Noltze aus. Erst Recht aber, wie viel Mut für ein Klassik-Label dazugehört, bewusst auf eine kommunikative Form der Klassikvermittlung zu setzen, statt weiterhin die 80er-Jahre-Erzählungen vom kleinen Wolferl mit Karlheinz Böhm auf den Markt zu bringen, die sich bis heute wesentlich besser verkaufen. Diese Zusammenhänge scheinen dem Leichtigkeitsfeind Noltze zu kompliziert zu sein.
Und trotzdem hat der Autor natürlich Recht, wenn er fragt, wie weit sich die Klassik den Moden unserer Zeit anbiedern darf. Ob es legitim ist, Kammermusik in der sogenannten „Klassik-Lounge“ zu spielen, in der ein DJ Opernstücke auflegt und Klassik-Künstler vor einem Publikum mit Bierflaschen in den Händen spielen. Ob das Fernsehen gut daran tut, „best of“-Stücke zu zeigen, und ob Bayreuth sich dem „Public Viewing“ öffnen sollte? Noltze bezweifelt all das. Und in seinem Kampf für das Schwere und Ernste, das Hohe und Heilige, das Gute und Hehre, vergisst er, dass selbst ernsthafte Musiker wie Nikolaus Harnoncourt immer wieder darauf hinweisen, dass Klassik sehr wohl populär sein kann, dass eine Salzburger Bäuerin im 18. Jahrhundert „Cosi fan tutte“ allerdings kaum verstanden hätte. Noltze vergisst, dass Mozart sich freute, als seine „Don Giovanni“-Schlager in Prag in den Gassen gepfiffen wurden, dass Verdis Opernhits zur italienischen Volksmusik gehören. Und er blendet aus, dass Beethoven zwar mit sich, seiner Musik und der Erweiterung der musikalischen Form gerungen hat – aber eben nur, um Sinfonien wie die Fünfte oder die Neunte zu schreiben, in denen nicht weniger als der Humanismus für ein Millionenpublikum greifbar wird. „Ja-ta-ta-taaa“ und „Freude schöner Götterfunken“ funktionieren, mit Verlaub, ganz ohne Anstrengung!
Noltze blendet aus, dass die Klassik stets eine Nischenkunst war. Und dass die Nische nicht kleiner wird. Im Gegenteil: Auf Wettbewerben, bei Journalisten-Workshops, in den Theatern haben wir es mit einer jungen Generation zu tun, die vielleicht wesentlich gebildeter ist als die vielen populären Klassik-Vermittler der 70er und 80er Jahre. Sie sorgt dafür, dass eine neue Ernsthaftigkeit längst Einzug hält. Und überhaupt: muss es immer Klassik sein? Oder ist es nicht legitim, dass Jugendliche Teamgeist, Taktik und Miteinander auch in Sportvereinen lernen, oder eine Pop- statt eine Posaunen-Karriere anstreben? Auch diese Dinge sind nur mit Ernsthaftigkeit und Anstrengung zu haben. Das ist selbst im schlechtesten deutschen Trash-Fernsehen zu sehen, das Noltze in bester Adorno-Manier natürlich vermaledeit. Dabei trägt selbst ein Dieter Bohlen in jeder „DSDS“-Sendung Noltzes Philosophie vor, denn auch seine Botschaft lautet: „Wer ein Star werden will, muss hart dafür arbeiten.“ Das aber sieht Noltze nicht, er macht Bohlen lieber verantwortlich für den Untergang der Klassik. Vielleicht ist das einen Schritt zu leicht gedacht!
Überhaupt das Fernsehen: Noltze beklagt den Umgang des Mediums mit der Musik. Und auch hier hat er in großen Teilen natürlich Recht: Der „Echo“ könnte eine Veranstaltung sein, die nicht für Superstars wie David Garrett, sondern für die Ernsthaftigkeit der Musik wirbt (wenn man allerdings mit kleinen Labels spricht, freuen sie sich – trotz der Angriffe aus den Feuilletons über die Auszeichnung), und natürlich würde die ARD mehr Zuschauer bei Klassiksendungen haben, wenn sie Opern um 20.15 Uhr und nicht mitten in der Nacht senden würde. Aber Noltze geht es auch um Formate wie „Die schönsten Opern aller Zeiten“, in denen Daniel Hope und Miriam Weichselbaum auf 3Sat die meistgespielten Opern vorgestellt und zur Abstimmung gebracht haben. Noltze mokiert sich, dass die Rollen zwischen dem Musiker-Vater und dem blonden Mädchen stereotyp verteilt wurden, und dass nicht alle Gespräche in die von ihm gewünschte Tiefe gingen. Was er verschweigt ist, dass Christoph Schlingensief hier ausführlich über Wagner geredet, Christine Mielitz über die politischen Töne in „Fidelio“ geschwärmt hat, unterschiedliche Interpretationen miteinander verglichen wurden – und das alles, ohne Superstars.
Ja, irgendwann hat eine Kabarettistin die Arie der „Königin der Nacht“ mit Furzgeräuschen interpretiert, und der Hip-Hopper Africa Islam erklärte, dass er Klassik „funky“ findet. Dass 3Sat in den Wochen zuvor 10 Opern in voller Länge mit guten Quoten gesendet hat, dass auch die Gala ein Publikumserfolg war, gilt für Noltze nicht. Dabei hat er in seiner Rezension für den Deutschlandfunk vor einem halben Jahr noch eingeräumt, dass in der Sendung durchaus darauf aufmerksam gemacht wurde, dass dieser Abend nur ein Anfang sei, dass der wahre Spaß an der Musik erst eintrete, wenn man zu Hause oder in den Opernhäusern seine persönlich besten Werke in unterschiedlichen Interpretation hören würde. Aber in seinem Buch „Die Leichtigkeitslüge“ schweigt Noltze nun über seine eigene, wohl vergessene, Begeisterung.
Noltze hat ein theoretisches Buch geschrieben – und das ist auch gut so. Es ist ein wunderbares Korrektiv für jeden Musikvermittler, um die eigenen Maßstäbe zu überprüfen. Doch „Die Leichtigkeitslüge “ verkörpert dabei so etwas wie die reine Lehre. In der Wirklichkeit der Musikvermittlung stößt sie schnell an ihre Grenzen. Noltzes Schablone, so richtig sie ist, passt leider nicht immer auf die Strukturen der Realität.
Man kann es sich leicht machen und so wie der Autor und sein oft zitierter Kronzeuge, der Journalist Joachim Kaiser, auf die Lust am Komplexen beharren, sich zurückziehen und seine eigenen Werte hochhalten. Das aber wird kaum dazu führen, die Klassik als wesentliche Größe einer Gesellschaft zu behaupten. Letztlich tun Noltze und Kaiser das ja auch nicht. Schließlich ist Kaiser nicht wegen seiner Rezensionen in der „Süddeutschen“ bekannt geworden, sondern mit seinen Kolumnen in der „Bunten“, und Noltze schreibt nicht nur kluge Musikvermittlungs-Bücher, sondern schrumpft den großen Richard Wagner für den Verlag „Piper“ auch schon mal zum „Wagner für die Westentasche“. Gut so!
Denn das schlechtgelaunte Feuilleton, dem gegenüber sich Noltze Hin-und-Her-gerissen fühlt, hat seine Vermittlungsrolle längst aufgegeben. In keiner anderen Nische tobt der Kampf um die Deutungshoheit unter Journalisten derart vehement wie im Musikfeuilleton. Auf diesem Kampffeld der Eitelkeiten, dessen Platz durch das Desinteresse der Chefredaktionen immer kleiner wird, ist schon lange kein neuer Hörer mehr für die Klassik gewonnen worden. Das Fernsehen, die Gesellschaftsseiten und die umstrittenen Star-Musiker haben längst entscheidend mehr für die Vermittlung von Klassik getan. Und wem Lang Lang und David Garrett nicht gut genug sind, wen Elke Heidenreich und Konrad Beikirch, der die Musik für jede Pointe opfert, nerven, so wie Holger Noltze und viele andere Klassikvermittler, denen bleibt wenigstens, deren Millionenpublikum an die Hand zu nehmen, um ihm die besseren Interpreten und die besseren Erklärungen nahezubringen. All das ist hilfreicher als jedes Lamento.
Noltze schreibt selbst, dass es unterschiedliche Zugänge zur Musik geben kann: die Sozialisation, die frühe, intensive Auseinandersetzung mit einem Instrument oder ein Geistesblitz, eine plötzliche „Erweckung“. Menschen, denen die ersten Wege zur Verfügung stehen, werden eh in der Musik landen – für die anderen müssen wir unser komplettes Schul-, Theater- und Bildungssystem umbauen, was so lange dauern würde, dass wir zu viel Zeit verlieren. Also müssen wir auch auf die Geistesblitze setzen. Doch die treten nur ein, wenn wir so viele Zugänge zur Klassik vorstellen wie möglich. Es kommt heute darauf an, die Lebendigkeit der angeblich sterbenden Klassik zu beweisen.
Tun wir das nicht, werden die wenigen Klassikvermittler zwar untereinander noch einige spannende Debatten über die Deutungshoheit führen – aber nebenbei geht ihre Kunst zu Grunde. Fernsehsender, Plattenfirmen, Künstler und Musikjournalisten wissen um die Lust der Anstrengung mit Musik, sie alle handeln aus Leidenschaft, ob sie das – so wie Elke Heidenreich – explizit formulieren, ob sie neue Strategien versuchen oder nur – so wie Noltze – die anderen Vermittler zum Denken anregen. Am Ende ist es entscheidend, dass alle an einem Strang ziehen. Das schulden wir unserer Leidenschaft. Diese Mühe sollte uns die Klassik Wert sein. Und Holger Noltztes Buch ist ideal, um jeden Klassikvermittler seine eigene Rolle überprüfen zu lassen. Auch Noltze sollte sein Werk noch einmal lesen und ein weiters schreiben: ein Buch, in dem er der Theorie die Praxis folgen lässt.
Axel Brüggemann

Holger Noltze: „Die Leichtigkeitslüge. Über Musik, Medien und Komplexität“. Edition Körber-Stiftung, 194 Seiten, 18 Euro.

Axel Brüggemann ist Journalist und Autor, er hat den „Kleinen Hörsaal“ für die Deutsche Grammophon erfunden, bei „Die schönsten Opern aller Zeiten“ mitgewirkt, moderiert das Public Viewing in Bayreuth und hat gerade sein neues Buch „Wie Krach zu Musik wird“, eine Musikgeschichte für Jugendliche bei Beltz&Gelberg herausgebracht.

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