Die Gefahr besteht, dass wir Wagner-Buch-Autoren uns im Jubeljahr durch die schier unüberschaubare Flut von Neuveröffentlichungen selbst neutralisieren. Und dennoch gibt es allerhand spannende, neudeutende und kontroverse Erscheinungen. Gerade ist Sven Oliver Müllers „Richard Wagner und die Deutschen“ auf meinem Tisch gelandet, „Eine Geschichte von Hass und Hingabe“. Ich habe das Buch noch nicht komplett gelesen, nur das Kapitel, das auch meinen Zugang zu Wagner betrifft - es geht um das „Public Viewing“ in Bayreuth und die Kino-Übertragungen der Festspiele, die – um es vorweg zu nehmen – für Müller „die größte Niederlage“ sind, „die der alte Wagner post mortem einzustecken hat.“ Das nenne ich: eine Meinung. Und: Gut, dass dieses Phänomen endlich einmal ausgeruht zur Debatte kommt. Denn seit langem fehlt uns ein Diskurs über die Frage, wie die modernen Multimedien (Fernsehen, Kino, Leinwand-Events, Internet etc.) das alte Multimedium Oper gewissenhaft übersetzen.
Anders als Müller, dessen Urteil sich allein auf ausgewählte, negative Zeitungsberichte des Public Viewings bezieht, und der wahrscheinlich auch nicht im Kino zugegen war, als hier letzten Sommer „Parsifal“ übertragen wurde, war ich dabei, wie die Idee von Wagner für alle entstanden ist. Das Public Viewing war keine spontane Idee. Sie ist langsam gewachsen – und klar war: Werder das Public Viewing noch die Kino-Übertragungen sollten und wollten Konkurrenz zu den Festspielen sein, und schon gar nicht sollten sie ihren Nimbus ankratzen. Im Gegenteil: Bis heute wird damit experimentiert, wie Richard Wagner für alle – und vor allen Dingen auf neuen Wegen – präsent sein kann.
All das war ein Grund dafür, das Public Viewing selbst nicht zu einer Routine-Angelegenheit werden zu lassen, sondern zu einem Ausnahmezustand im Dienste der Festspiele – als Verlängerung ihrer eigentlichen Botschaften. Auch deshalb wurde es nur in Bayreuth veranstaltet, nur zu einer Aufführung und nur einmal im Jahr. Sinn war stets: Die Verschmelzung von Leinwand und Theater-Aura. Deshalb auch die Auftritte der Sänger auf dem Volksplatz am Ende der Übertragungen – sie waren jedes Mal das Highlight der Veranstaltung. Die Fleischwerdung der Leinwand, die Echtheit des Virtuellen, die Bühne auf dem Volksplatz – die Menschen im Zentrum des Wagner Festes, die dafür sorgen, seine Kunst in unserer Gegenwart neu zu beleben.
Die Aufgabe: Wagner in einem zwar rituellen, aber ungezwungenen Rahmen zu zeigen. Und jeder, der da war, weiß was gemeint ist: Picknick – Ja! Aufmerksamkeit – ebenfalls! Im Mittelpunkt steht: die Musik. Und so wuchs auch das Programm in den Pausen: Gespräche mit Künstlern, Experten UND Publikum. Der Volksplatz als eine Wagner-Familie aus Wagnerianern und Schaulustigen, die – am Ende – eben doch geblieben sind. Das Public Viewing als eigene Veranstaltung mit Aura. Als: Wagner für alle. Einmalig – jedes Jahr nur eine Aufführung, eine Inszenierung, immer der gleiche Ort. Und vor allen Dingen: Als Work in Progress, an dessen Möglichkeiten sich alle Beteiligten erst langsam herangetastet haben. Vom ersten Mal zum zweiten, in dem die Pausenprogramme ebenfalls auf der Leinwand übertragen wurden bis zum dritten Mal mit der Integration der Kinderoper und des Wagner-Parcours. Grundidee war es stets: Ohne Wagner zu verraten Wagner nahbar werden zu lassen. Ohne Verlust von Tiefe unterhaltsam an die Oper heranzuführen.
Ideen, die später auch in die Kino-Übertragungen übergingen. Wie war es möglich, Oper ins Kino zu bringen und näher zu sein als das Publikum im Fernsehen. Über zwei Stunden Blicke hinter die Kulissen: Bevor sich der Vorhang hebt stehen wir hinter ihm, in der Pause im mystischen Abgrund – Thielemann, Bühnenarbeiter und Sänger kommen zu Wort. Keine Profanisierung des Mythos Bayreuth, sondern seine mediale Übersetzung: Arbeit an Wagner, Freude mit Wagner – das Besondere erleben. Und: es miterleben lassen.
Und deshalb hier zur Debatte, drei Thesen von Sven Oliver Müller:
Bayreuth war ein Nachklatsch anderer Public Viewings, etwa in Salzburg oder München.
Das stimmt so nicht. Die Public Viewings, gerade in Salzburg, sind lieblos hingestellte Leinwände, an denen Passanten vorbeischlendern. Sie werden nicht moderiert, haben nicht den Charakter der Sammlung, sondern sind Litfasssäulen und Werbeposter. Ähnlich verhält es sich mit den Events etwa in München oder Berlin, die bewusst im Haus für die Übertragung auf dem Platz inszeniert wurden. In Bayreuth aber wurde das unveränderte Ereignis auf dem Hügel, das keine Rücksicht auf den Platz nimmt, als solches Gefeiert – der wahre Bayreuther Wagner und die echten Festspiele. Sie haben sich – an einem Abend im Jahr – für alle geöffnet. Anders ist es mit den Kino-Übertragungen, die sich eben nicht am Fernsehen orientieren, sondernd an den Übertragungen der MET, in denen in den Pausen eine künstlerische und menschliche Nähe zwischen dem Publikum und der Bühne aufgebaut wird – über das Werk, den Komponisten und die Kunst des Theaters. Das Public Viewing war Vorreiter einer einmaligen medialen Theater-Übertragung – das gab es vorher nicht und bis heute so nicht wieder.
„Das Mediative des ursprünglichen Festspielbesuches mag fehlen und auch die Aura des Kunstwerkes im Benjaminschen Sinne – aber beides ist für das Ereignis und Erlebnis der Menge schlicht nicht mehr relevant.
Das ist falsch, denn gerade auf dem Festplatz war der meditative Charakter eines Wagner-Besuches in Reinform zu erleben: Das Pilgern an den Ort der Vorstellung, das Warten, das Einlassen auf den Moment der Aufführung – tatsächlich war es so, dass selbst im größte Gewitter, niemand den Platz verlassen hat, dass sich jeder Zuschauer mediatativ längst im Raum der Oper befand. Ein Ausnahmezustand für alle, die wirklich da waren!
Das Public Viewing ist die vielleicht größte Niederlage, die der alte Wagner post mortem einzustecken hat.
An dieser Stelle eröffnet Müller eine der größten Debatten, die wir in der Klassik zu führen haben mit einem – für mich – viel zu schnellen Urteil. Formen medialer Öffnung zerstören das Werk der Komponisten? Nein, das kann es nicht sein. Andere Formen der Kunst-Rezeption wenden sich per definitionem vom Kern der Kunst-Aussage ab? Ich habe Zweifel daran. Ist es nicht gerade eine Herausforderung für Opernschaffende, das Multimedium Oper (Gesamtkunstwerk!) in die Multimedien unserer Zeit einzuordnen und es als Gesamtkunstwerk, also als Kunstwerk, in dem die Bühne und das Leben der Menschen miteinander verschmelzen, zu behaupten? Und ist es gerade dafür nicht wichtig, an Formen zu arbeiten, in denen die Wahrhaftigkeit der Kunst nicht gegen die seichte Unterhaltung ausgehebelt wird, sondern – im Gegenteil – Formen zu finden, in denen die Größe der Bedeutung von Kunst deutlich wird? Es ist nun einmal so, dass neue Medien das alte Medium Oper herausfordern – und dass vielerorts an lieblosen eins-zu-eins-Umsetzungen gebastelt wird.
Das Public Viewing und die Kino-Übertragungen aus Bayreuth aber versuchen kontinuierlich, den Kern des Werkes und der Kunst Wagners zu übersetzen, indem sie mit großem Aufwand, vielen dramaturgischen Fragen, mit einer Nähe zum Ort, zum Werk und zu seiner modernen Rezeption antworten. Sicherlich ist auch hier noch vieles möglich, sicherlich wurden auch hier Sackgassen eingeschlagen – aber eine Niederlage des multimedial denkenden Wagners kann seine Übersetzung in neue Multimedien nicht sein. Um so wichtiger ist es, einen konstruktiven Diskurs über das „Wohin“ aufrecht zu erhalten, statt im Namen Wagners den Stecker zu ziehen.
AXEL BRÜGGEMANN
(Brüggemanns Wagner-Biographie "Genie und Wahn" / Weitere Lektüre: Essay über Wagner und Verdi im Cicero.)
Lieber Herr Brüggemann,
AntwortenLöschenhaben Sie die "These", an der Sie sich hier abarbeiten, nicht ein wenig aus dem sprachlichen Zusammenhang gerissen?
Die Niederlage besteht doch laut Müller (augenschenilich augenzwinkernd) nicht darin, dass es Wagner für alle gibt. Das wollte der alte Meister doch mehr als alles andere. Sondern das Buch sieht sie darin, dass beim public viewing ausgerechnet wieder Funktionen des Opernbesuches lebendig werden, die Wagner mit seiner Idee Bayreuth so eisern bekäpft hat.
Liebe Rebecca v.K.,
AntwortenLöschenich denke nicht, dass sie aus dem Zusammenhang gerissen ist - und tatsächlich finde ich es befremdlich, dass Müller offensichtlich kein Public Viewing und keine Kinoaufführung besucht hat (obwohl er zu ersterem fünf Jahre Zeit hatte) - die Beschreibung der Veranstaltung ist einfach falsch, und deshalb natürlich auch die Rückschlüsse. Wirklich GANZ Bayreuth war anwesend, die Kinos weitgehend ausgebucht --- und: Es fand keine Unterhaltung unter Niveau statt, sondern im Gegenteil: Es wird (und wird) nach Formen gesucht, Oper multimedial zu vermitteln und ihren Aussagekern zu bewahren, diese Dimension aber ist bei Müllers etwas billiger Abrechnugn gar nicht geöffnet...
Liebe Grüße
AB